Ist das Netz ein Nicht-Ort?

christoroliachristorolia
Es gibt diese und jene Orte. Marc Augé spricht bei jenen Orten von Nicht-Orten und meint damit sinnentleerte Funktionsorte. Diese Nicht-Orte sind keine “anthropologischen Orte”, der Mensch ist nicht heimisch in ihnen, sie haben keine gemeinsame Vergangenheit, schaffen keine sozialen Beziehungen. “So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen läßt, einen Nicht-Ort.” (Augé 1994, 92) Beispiele für Nicht-Orte sind Flughäfen, U-Bahnen, Hotels, Supermärkte usw. An einem solchen Nicht-Ort könnte sich Edward Snowden zur Zeit aufhalten, nämlich im Transit-Bereich eines Flughafens, einem Nicht-Ort par ex­cel­lence. Angela Merkel scheint das Internet für einen solchen Nicht-Ort (“Neuland”) zu halten. Ich selbst bin der Meinung, dass das Netz sich keiner der beiden Ortskategorien zuordnen lässt und eine neue Kategorie verlangt.

felisfelis
Meinem Empfinden nach passt die Klassifizierung “Ort” nicht zum Internet. Ein “Ort” fühlt sich für mich beschränkter und abgegrenzter an, als das, was das Internet zu bieten hat. Ich würde es vielmehr eine Ebene höher heben und es als “Lebensraum” bezeichnen. Eine Welt, die Raum bietet für viele unterschiedliche Orte – und zwar beider Kategorien. Da gibt es Orte wie Twitter (und ähnliche), in denen beispielsweise ein #Aufschrei eine Welle von Reaktionen, Diskussionen und Emotionen auslösen kann, die in andere Orte – “Offline”-Orte – überschwappt. Und wo eine gemeinsame Geschichte dazu führt, dass ein simples Musikvideo mit einem etwas zu hampelig tanzenden 80er-Popstar eine völlig neue Bedeutung bekommt. Solche Orte bieten mir Identifikationsmöglichkeiten, ich fühle mich ihnen verbunden und durch sie auch anderen Menschen, mit denen ich dort gemeinsam Erlebtes teile. Ich würde sie also als anthropologische Orte bezeichnen. Andererseits gibt es “Orte” wie beispielsweise Bankingportale, Versandhandelsunternehmen oder Reisebuchungsagenturen, die wohl eher den Nicht-Orten, dem Unpersönlichen, Flughafenartigen angehören. Ob Angela Merkels “Neuland” da nicht vielleicht sogar recht passend ist? Ein neues Land, das Orte aller Art, Farbe, Form, Geschmacksrichtung bietet?

Joachim
Ich bin da ganz bei felis: Das Internet als Ganzes ist weder Ort noch Nicht-Ort, sondern schlicht ein Netzwerk, über das Information ausgetauscht wird. Einzelne Dienste können vielleicht Orte im oben genannten Sinn sein. Aber sind sie das?

In Chats gibt es Räume. So heißen dort die Verteiler, unter denen sich Teilnehmende austauschen. Die Analogie ist klar: Wir unterhalten uns mit denen, die sich gerade im selben Raum wie wir aufhalten, und das System teilt uns mit, wer neues in den Verteiler aufgenommen wird (den Raum betritt) oder aus dem Verteiler entfernt wird (den Raum verlässt). Der Raum als abgeschlossener Ort, als Grenze des Gesagten; das gesprochene Wort verlässt ihn nicht.

Moderne soziale Dienste kennen Räume wie im Chat nicht. Weder in Facebook noch auf Twitter ist die Gruppe der Empfänger von Nachrichten so klar eingegrenzt. Dazu ist die Gruppe der Menschen, die Nachrichten von mir bekommen, nicht deckungsgleich mit der, deren Nachrichten ich bekomme. Die Struktur auf diesen Diensten unterscheidet sich von der eines Ortes mit festen Wänden und einer definierten Anzahl aktuell Anwesender. Anwesenheit Einzelner ist hier keine Kategorie. Es ist eher ein Geflecht aus gerichteten Sende-Empfangs-Beziehungen, das diese Dienste ausmacht. Das lässt sich als Analogie zum Ort kaum beschreiben.

Und das Online-Banking-Portal? Das ist kein Ort oder Nicht-Ort, denn hier bin ich idealerweise allein und lass mir nicht über die Schultern gucken.

Dierk HaasisDierk
Ein Werkzeug. Oder vielleicht ein Werkzeugkasten. Das Internet ist Kommunikation, mal aufgefasst auf technischer Ebene – die Kabel und Funkwellen, die benutzt werden –, mal konzeptionell. Ich weiß nicht, wie hilfreich ein eigenes Gedankengebäude Internet, aus dem sich womöglich auch dieses ominöse “Neuland” speist, ist.

Die meisten Menschen, mit denen ich das Internet regelmäßig seit Jahren nutze, sehen eine weltumspannende, oft einfachere, in Kosten<->Nutzen bessere Möglichkeit, sich auszutauschen. E-Mail, Web, FTP, Usenet, Blog, Chat und so weiter und so fort sind für sie elektronische Varianten altbekannter Kommunikationswerkzeuge – vom Brief bis zum Dia-Abend, vom Telefongespräch bis zur Watercooler-Konversation. Einen großartigen ideologischen Überbau benötigen sie nicht, um das Internet zu nutzen. Sie tun das einfach.

Das Internet in eine schon prinzipiell nicht passende Kategorie, wie [National]Staat, zu pressen, ist sinnlos. Ich sehe auch keine Grund, für das Internet eine neue Kategorie zu erfinden, verortungslose Phänomene, z.B. Kommunikation, sind nicht neu. Das Neue bewegt sich für mich auf quantitativer Ebene, die in Qualität übergeht: Per Internet ist Viele-zu-Viele-Kommunikation praktisch ohne Zeitverzug möglich. Jeder kann jederzeit weit über die Grenzen seines direkten Umfeldes hinaus anderen seine Erfahrungen und Ideen mitteilen. Jeder kann jederzeit die Erfahrungen und Ideen anderer erhalten.

Keine Torwächter mehr, keine Patrouillen, keine Filter. Selbstverständlich bemühen sich jene, die diese Aufgaben in der Vergangenheit  erfüllten, diese auf die neuen Werkzeuge zu übertragen. Nicht selten verzweifelt, auf lange Sicht – ich bin da sehr optimistisch – vergeblich.

Nicht einmal rechtlich ist da irgendwas unentdecktes Neuland. Diverse Interessengruppen nutzen lange brachliegende Paragraphen aus, versuchen neue zu bekommen, weil angeblich alles anders wäre. Die Musikindustrie hat das bei jedem verbesserten Tonträger gemacht, die Filmindustrie auch. Da ist sicher Handlungsbedarf, aber vor allem, um die aus Angst vor den Ureinwohnern und ersten Pionieren aktionistisch eingeführten rechtlichen Irrwege zu begradigen. Menschen- und Bürgerrechte bleiben aber unabhängig von den technischen Möglichkeiten.

ErbloggtesErbloggtes
Ehrlich gesagt finde ich Audés Ansatz ziemlich unbrauchbar. Indem er diese zur Erforschung “primitiver” afrikanischer Dörfer eingesetzte Ethnologie, die offenbar Orte mit phänomenologischer Magie (Identität, Relation, Geschichte) auflädt, nach Paris transferiert, ist doch klar, was dabei herauskommt: Eine kulturpessimistische Gegenwartskritik, die beklagt, dass das “Echte” in der Moderne verlorengegangen sei. Und das auch noch auf das Internet übertragen? Neee. Dass die Suche nach traditionellen “Orten” in (post)modernen Gesellschaften scheitert, weist für mich eher darauf hin, dass man so auch die traditionalen Gesellschaften nicht besonders sinnvoll erforschen kann.

Gleichermaßen anwendbar auf einen Dorfplatz in Westafrika, auf die Transitzone eines Flughafens und auf ein Internet-Diskussionsforum dürfte eher ein Ansatz sein, der die Akteure, ihre Beziehungen zueinander und die konkreten Interaktionen an dem untersuchten Ort in den Blick nimmt. Das trifft etwa auf den Ansatz der Sozialen Netzwerkanalyse zu. Der hat erstmal nichts mit “social networks”/”social media” zu tun, es ist wohl eher so, dass diese Internetdienste sich den soziologischen Netzwerkgedanken zum Vorbild genommen haben.

christoroliachristorolia
Ich meine jetzt deutlich klarer zu sehen. Die Nähe der Begriffe Ort und Raum haben mich zu Beginn verwirrt. Natürlich handelt es sich beim Internet nicht um einen Ort, sondern um einen Raum, und zwar um einen medialen Raum. Der Unterschied zu herkömmlichen Räumen ist, dass es sich hier um einen nicht-physischen Raum handelt. In diesem Raum gibt es Orte wie z.B. Twitter oder dieses Blog hier, die m.E. sehr wohl anthropologische Orte sind, Orte mit Geschichte und Geschichten, sozialen Beziehungen etc. Hier ins Spiel zu bringen ist noch so etwas wie der oft missbrauchten Begriff der sozialen Beschleunigung: Alle Prozesse finden an den Orten des Netzes sehr viel schneller statt als im “realen Leben”. Dazu kommt noch eine Fragmentierung des digitalen Lebens, denn wir haben die Möglichkeit, an mehreren Orten praktisch gleichzeitig zu agieren.

Ikosaeder als Netzwerk

Bilden unsere Beziehungen im Internet ein räumliches Netzwerk?

Joachim
Mir fällt auf, dass mir die zugrundeliegenden Definitionen von soziologischen Räumen und Orten nicht vertraut sind. Statt dessen habe ich umgangssprachlich argumentiert (und selbst hier ist der Begriff Raum ja zweideutig und kann entweder Kosmos oder Zimmer bedeuten). Im physischen Sinne ist das Internet sicher kein abgeschlossener Raum, aber vielleicht sowas wie ein Geflecht von Beziehungen, das man sich wie einen Kosmos vorstellen kann.

Und einige dieser Dienste bilden vielleicht Orte in diesem Beziehungsraum. Wobei ich nicht glaube, dass ein Dienst wie Twitter ein Ort ist. Denn diese Dienste sehen für jede/n von uns anders aus. Aber hier schaffen wir uns immer wieder neue Orte.

Gibt es eigentlich eine Definition für soziologische Räume und Orte, in deren Sinn das Internet ein Raum und die Dienste Orte sind? In meiner naiven Sichtweise sind sie nämlich weder das eine noch das andere.

ErbloggtesErbloggtes
Ich glaube nicht, dass es eine geläufige soziologische Definition von “Ort” gibt. Von “Raum” gibt es vielleicht mehrere, da es ein so schillernder Begriff ist, allerdings eher im Sinne von Lebensraum (man denke an “Volk ohne Raum”), nicht im Sinne von Zimmer oder von abstraktem Raum. Wobei ich “Sozialen Raum” nach Pierre Bourdieu eher im abstrakten Bereich einordnen würde, so wie die Vernetzung von Akteuren ja einen abstrakten Raum bildet, wie Du sagst, Joachim, und auch bildlich untermauert hast.

Wo liegt die Grenze des Forum Romanum?

Zurück zum Ort: Ein Bibliothekskatalog schlägt mir als Adjektive  zu “Ort” die Liste “sagenumwobener, verwunschener, mysteriöser, märchenhafter, geheimnisvoller” vor. Das unterstreicht den magischen Aspekt, mit dem ein “Ort des Geschehens” belegt wird. Dass Twitter für jeden – entsprechend seiner sozialen Position – anders aussieht, scheint mir aber kein guter Einwand gegen die Bezeichnung als Ort. Denn beispielsweise das Forum Romanum sah zweifellos für jeden Römer anders aus, und wenn man die subjektiven Perspektiven auf “einen Ort” zum Maßstab machen will, wird man vielleicht nicht einmal den einen gemeinsamen Ort finden, weil die Grenzen eines solchen Ortes in den Erfahrungen der Subjekte nicht einheitlich sind. Ein Ort hat keine Grenze a priori. Ebenso sind die Grenzen unserer Twitter-Timelines nicht einheitlich, dennoch können wir uns an diesem “Ort” treffen. Vielleicht ist das die Bedeutung, in der wir den Begriff Ort gut verwenden können: Treffpunkt.

Anmerkungen:
1. bis auf die Clowns, die anderen immer wieder sagen, wie sie gefälligst Twitter zu benutzen hätten oder welche Blogartikel man gefälligst schreiben müsse.
bis auf die Clowns, die anderen immer wieder sagen, wie sie gefälligst Twitter zu benutzen hätten oder welche Blogartikel man gefälligst schreiben müsse.
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3 Kommentare zu Ist das Netz ein Nicht-Ort?

  1. KarlRainer sagt:

    Nur ganz kurz:
    Das Netz ist ein Nicht-Ort für Fische die kleiner als fünf Centimeter sind.

  2. Pingback: Was ist Twitter? | Quantenmeinung

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