Reg dich ab, my ass!

jhermesjhermes
Unaufgeregt kommt man weiter, hatte ich letztens mal auf Twitter gepostet und damit Zustimmung, aber auch Widerspruch geerntet. Das Ganze hat sogar zu kurzer Aufregung geführt. Da ist natürlich auch die Frage, ob Twitter ohne Aufregung überhaupt funktionieren würde oder ob dann etwas Substanzielles fehlte.

Ute GerhardtUte
Da hätten wir also zwei Fragen: 1. Kommt man unaufgeregt weiter? 2. Was wäre Twitter ohne Aufregung? (Was wiederum zu einer dritten Frage führt: Welche(n) Zweck(e) hat Twitter?)

Iris Mauss, Stanford, zeigt auf, dass das Unterdrücken von Gefühlen grob ausgedrückt ungesund ist. (Hier noch ein Bezahl-Link zum Originalartikel) Weitere Studien zeigen wohl, dass Menschen, die stets stoisch wirken, von anderen Menschen als unsympathischer empfunden warden. Offen gestanden kann ich das nachvollziehen. Emotionen sind mit der beste Hinweis darauf, wie eine Person “tickt”. Zeigt mein Gegenüber keine Emotionen, kann ich es und seine möglichen Reaktionen nicht einschätzen. Das verunsichert nicht nur, sondern es führt auch dazu, dass ich die Bedürfnisse dieser Person womöglich völlig unterschätze oder verkenne.

Ich finde, es schadet nicht, wenn man bei einer Sache, die einem wichtig ist, auch Emotionen zeigt, solange sie echt sind und man dem anderen gegenüber nicht ausfallend wird. Emotionen verdeutlichen Standpunkte und Prioritäten und dienen einem auch selbst als Antrieb. Was mich aufregt, ändere ich viel eher und mit mehr Energie als etwas, das mich buchstäblich kalt lässt. Daher postuliere ich: Aufregung zu fühlen und sie auch auszudrücken ist oft sehr wohl notwendig, um weiterzukommen – für sich selbst und auch beim Gegenüber.

Ob Twitter auch ohne Aufregung noch Twitter wäre, kommt m.E. wie oben erwähnt darauf an, wofür man es nutzt. Berufliche Accounts oder solche, die man nur zu Informationszwecken führt, sind wahrscheinlich von vornherein weniger für Aufregung und dergleichen anfällig. Da ist der innere Abstand zum Follower einfach größer. Privataccounts, die nicht selten den Zweck haben, den Freundeskreis zu erweitern bzw. einfach das Sozialleben zu ergänzen, kommen hingegen wohl eher nicht ohne Emotionen aus – denn dort sind Emotionen ein wichtiger Grund, warum man den Account überhaupt hat.

Was bleibt, ist die Frage: Ist Sachverhalt/Thema XYZ überhaupt die ganze Energie und Aufregung wert? Das jedoch muss wohl jeder für sich selbst klären.

Joachim
Wir sollten nicht vergessen, dass Twitter kein Gespräch ist. Twitter ist eine Kunstform, also eine schriftliche Simulation von Gesprächen. So wie ich einer Romanfigur, auch wenn sie ein Ich-Erzähler ist, Emotionen geben kann, die ich aktuell nicht empfinde, kann ich auf Twitter künstlich Emotionen einbringen oder herausnehmen.

Die Limitierung auf 140 Zeichen macht das sogar oft notwendig. Ich muss pointieren, wenn ich komplexe Dinge ausdrücken möchte. Eine Möglichkeit dafür Emotionen zu wecken.

 

Das macht diese Emotionen nicht unauthetisch. Ich versuche ja, etwas auszudrücken, was ich wirklich denke. Aber die Emotionen oder auch der Verzicht auf Emotion sind eben ein Stilmittel. Twitter ist Literatur.

Dierk HaasisDierk
Leidenschaft für ein Thema ist schön und sicherlich notwendig – wenn man sie einbremst. Zum einen verwölken Emotionen einem den klaren Blick auf Fakten und Schlussfolgerungen, zum anderen überwältigen sie gerne die Emotionen der anderen.

Nun ist nicht nur Twitter eine literarische Form, auch Rhetorik ist eine, die Kunst der Überredung. OK, die klassischen Rhetoriker, besonders die antiken Griechen, aber auch die Lateiner, würden mich dafür schief ansehen, waren sie doch der Ansicht, dass Inhalt und Form – und damit Aufrichtigkeit – zusammengehören.  Für sie war es die Kunst der Überzeugung.

Wenn ich andere von meinen politischen Ideen überzeugen will, muss ich ihnen zeigen, dass ich voll dahinter stehe, dass diese Ideen Teil meines Lebens, Teil von mir sind. Da ist es notwendig offen Emotionen zu zeigen. Übrigens unabhängig davon, ob diese echt sind oder nicht. Die großen politischen Redner von Cäsar und Cicero bis zu Goebbels und Hitler nutzten Emotionen und Erregung, um dünne Faktenlagen und ungültige Schlüsse zu verschleiern. Sie übertrugen ihre Ideen rein emotional auf die Zuhörer.

Tacitus setzt sein sine ira et studio bewusst gegen eine seiner Ansicht nach durch Emotionen verfälschte Geschichtsschreibung. Angst und Hass hätten den Blick auf Kaiser wie Nero, Claudius und Tiberius getrübt. Das bedeutet noch nicht, dass er weniger verfälschte, schließlich kann auch Zuneigung zu einem falschen Bild führen. Die Grundidee aber, sich zurückzulehnen, bis zehn zu zählen und die vorhandenen Argumente aller Beteiligten zu durchdenken und abzuwägen, ist langfristig hilfreicher, als aufgeregt miteinander umzugehen.

Ute GerhardtUte

Als Dauerzustand ist also offenbar beides ungeeignet. Und logischerweise sind Beschimpfungen und ähnliches natürlich völlig inakzeptabel.

jhermesjhermes
Wie immer macht also auch hier die Dosis das Gift. So habe ich mir das vorgestellt – ihr lest Aufregung, vermischt es mit Emotionen, Gefühlen und Leidenschaft, entwerft rändlings eine Theorie zur Funktionsweise von Twitter, habt dann am Ende alles wieder sauber auseinander dividiert und könnt mir zustimmen. Unaufgeregte Leidenschaftlichkeit ist eben genauso möglich wie berechnend eingesetzte Emotionalität. Und ich habe den Eindruck gewonnen, dass man Menschen einfacher überzeugen kann, wenn man sie nicht von vornherein mit ehrverletzenden Ausdrücken beschimpft, nur weil man dafür in der eigenen Peer Group mit Applaus bedacht wird.

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5 Kommentare zu Reg dich ab, my ass!

  1. Panagrellus sagt:

    Das hat jetzt nichts mit Twitter zu tun, aber ich verfolge seit einiger Zeit eine Debatte unter Genetikern über ein 290 Millionen $ teures Großprojekt namens ENCODE. Dort ging es auch zuerst sehr unaufgeregt, sachlich und emotionslos zu, so wie das viele Wissenschaftler wohl für richtig halten. Das Problem: Auf der einen Seite steht das ENCODE -Konsortium mit politischer Unterstützung und PR-Abteilung, die Kritiker dieses Unfugs sind dagegen Einzelkämpfer und wurden deswegen lange Zeit nicht gehört.

    Erst als einer dieser Kritiker, Dan Graur, kürzlich seine wissenschaftliche Publikation mit einer scharfen Mischung aus Sarkasmus, Ironie und anderen Bosheiten aufgeladen hat, wurde die berechtigte Kritik endlich wahrgenommen. (Hier Graurs Version der Geschichte auf seinem Blog: http://judgestarling.tumblr.com/page/2 ).

    Aufregung ist also manchmal durchaus nützlich und angebracht . Allerdings war Prof. Graurs Breitseite keine blanke Hysterie, sondern ein schönes Beispiel, wie man sich mordsmässig aufregt, dabei aber trotzdem messerscharf und logisch argumentiert.

    • Erbloggtes Erbloggtes sagt:

      Sehr interessant! Hat es denn etwas bewirkt, dass die Kritik wahrgenommen wurde, oder war sie durch die Aufregung desavouiert?

      Es gibt ein Buch über Historikerdebatten, das heißt “Die zankende Zunft”. Historiker streiten viel, auch bis ins Persönliche gehend. Schließlich geht es immer um Identitäten. Aber eigentlich wollen sie damit nichts zu tun haben, weil sie das unwissenschaftlich finden.

      • Panagrellus sagt:

        Hat es was bewirkt? Schwer zu sagen. Aber allein, dass die Kritik nach Jahren auch ausserhalb der Spezialistenkreise endlich mal wahrgenommen wurde, das ist schon mal eine Wirkung.

        Aber du hast schon recht, es gab auch die Kehrseite: Gelegentlich wurde gar nicht mehr über den Inhalt der Kritik, sondern nur noch über den Stil diskutiert.

        Ich finde es gut, dass die Historiker ihre Persönlichkeit in ihre Streitereien einbringen. Die Naturwissenschaftler tun ja nur immer so, als seien ihre Ergebnisse und Theorien völlig unabhängig von den handelnden Personen. Das verleiht der Naturwissenschaft und ihren jeweils neuesten Erkenntnissen zwar eine Aura des Unverrückbaren, das ist aber nicht sehr produktiv und führt dazu, dass die Leute ein falsches Bild davon haben, wie Wissenschaft funktioniert.

        Graur zitiert auf seinem Blog einige schöne Beispiele aus der jüngeren Geschichte, wie Fortschritt gerade dadurch zustande kam, dass kräftig die Fetzen flogen.

        Das heisst jetzt nicht, dass Wissenschaftler sich Beleidigungen an den Kopf werfen sollten, aber in der Sache darf er oder sie schon mal deutlich werden.

  2. Andrea E. Reinhardt sagt:

    Erfolgreiche Zusammenarbeit setzt voraus, dass man einander etwas bedeutet, dass einem der andere wichtig ist. Wenn immer alle 100% sachlich sind und darauf achten so, gefühllos wie möglich Menschen und Sachthemen gegenüber zu bleiben, wird weniger voran kommen, weil niemand sich den Teammitgliedern und dem Ergebnis selbst emotional verpflichtet fühlt. Das gilt für alles mit positiven Emotionen, aber ebenso für die gegenteiligen. Wären Revolutionen ohne Emotionen denn überhaupt denkbar?
    Um Reaktionen des Gegenüber einschätzen zu können, um seine Botschaften überhaupt zu verstehen, braucht es auch nicht dafür eine emotionale Basis?
    Da man auf Twitter ziemlich viel Abstand hat (man sieht sich nicht, man hört sich nicht und man ist auf 140 Zeichen begrenzt) wird Aufregung augenscheinlich genutzt, diesen Abstand zu überwinden, Aufregung als Tool für Emotion ?
    Da man auf Twitter häufig mit einem ( noch )nicht bekannten Twittereren konfrontiert wird ist twitter an sich sowieso schon aufregend ?

    • Ute Gerhardt Ute Gerhardt sagt:

      Das sehe ich genauso. Eine aufgeregte/emotionale Rede muss noch lange nicht unsachlich oder inhaltlich falsch/leer sein.

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