Meinung verloren im Meinungspluralismus?

jhermesjhermes
Am Freitag wurde zum wiederholtem Male der Euro, das Finanzsystem oder wahlweise das gesamte Abendland gerettet, indem auf einem Treffen der Finanzminister der Euro-Gruppe mit weiteren institutionellen Vertretern eine Art von Einigung erzielt wurde, unter welchen Bedingungen irgendwer in den nächsten Monaten Geld an die Griechische Regierung gibt, damit die es an ihre Gläubiger weitergeben kann.

Obwohl ich vom Thema wenig verstehe, hatte ich eigentlich erst zwei Tage später mit einer Einigung gerechnet, nachdem nämlich Regierungschefinnen und -chefs sich noch einmal ausgiebig unterhalten hätten. Allein aus Gründen der Dramaturgie, schließlich war ein solcher Gipfel schon als Möglichkeit im Vorfeld angedeutet worden und eigentlich kann man als Beobachter des politischen Lebens immer fest damit rechnen, dass jeder in Frage kommende dramaturgische Kniff auch ausgeschöpft wird.

Wo ich mich in der Angelegenheit getäuscht hatte, traf wenigstens meine zweite Vorhersage zu: Im Falle einer Einigung würden es alle beteiligten Parteien als eigenen Sieg verkaufen und mit ihnen die ihnen jeweils wohlgesonnenen Kommentatoren in der Presse, in Blogs oder eben auf Twitter. Und so kann man jetzt wieder alles lesen: Dass es ein Schäuble-Diktat und ein Wiedereinstieg in die Austeritätspolitik ist genauso wie dass das Ergebnis eigentlich ein Sieg für die neue griechische Regierung darstellt.

Jetzt kann man einerseits darüber froh sein, dass einem so ein Ding wie das Internet mit seinen Blogs, mit Livestreams, mit Twitter usw. erlaubt, einen viel größeren Meinungspluralismus zu erleben, als man das über die Tagespresse oder den eigenen Stammtisch geboten bekäme. Aber liegt darin nicht auch die Gefahr, dass man viel einfacher genau die Position wiederfindet, die einem die wenigste Bewegung vom eigenen Weltbild weg aufzwingt? Kommt man der Wahrheit näher oder doch nur den eigenen Vorurteilen?

Martin
Es geht ja gar nicht zuerst um die Meinungen, sondern um Basis-Information. Und die bekomme ich nicht in den Qualitätsmedien. Das war für mich bei der Eurokrise Vol. 1 in 2009/2010 das Aha-Erlebnis: Damals war ich verwirrt von den spärlichen und nichtssagenden Brocken, die SZ (Print) sowie ZEIT, FAZ, WELT, SPON (Internet) anboten.

Über Google+ bekam ich eine Ahnung, dass es da eine ganze Dimension gab, von der ich schlicht nichts wusste.  Ich probierte dann aus, wie weit ich komme, wenn ich meinen eigenen Fragen im Netz nachgehe, und las dann u.a. das Krugman-Blog, FT Alphaville und Zerohedge. (Letzteres eine wüste Mischung mit klarem “Alles-bricht-zusammen”-Bias, da schreiben neben ausgekochten Hedgefonds-Analysten auch ab und zu echte Spinner, aber das Blog beleuchtet eben konsequent die erdabgewandte Seite des Mondes.) Das Resultat war gespenstisch: Es war extrem interessant, was da bis zum berühmten Eingreifen durch Draghi im Zusammenhang mit Eurokrise und “Rettung” passierte, und in den deutschen Medien las ich damals davon überhaupt nichts. Das änderte sich dann nach einigen Monaten, der SZ-Wirtschaftsteil schwenkte irgendwann auf die Weltsicht ein, die da draußen seit langem geteilt wurde.

Ich bin von Jugend an undogmatisch links und höre es zugegeben gern, wenn die herrschende deutsche Wirtschafts-Doktrin in Zweifel gezogen wird. Aber mit politischen Meinungen hatte das erstmal nur am Rand zu tun. Es war eher ein Crahskurs in Makroökonomie. Die Ökonomen vertreten politisch durchaus gemischte Positionen, und einige meiner Quellen waren eindeutig libertär-neoliberal, aber das Bild, das ich allmählich von Finanz-, Geld- und Schuldenpolitik bekam, hatte praktisch nichts mit dem zu tun, was ich als mäßig interessierter Bürger beim pflichtschuldigen Blick in die deutschen Medien erfahren hatte.

Und jetzt, nach dem Wahlsieg von Syriza, hat sich das eben wiederholt. Die Berichterstattung der SZ, insbesondere auch von Cerstin Gammelin, hat mich regelrecht wütend gemacht. Es ist völlig ok, wenn sie für die konservative deutsche Sonderposition agitieren, aber ich erwarte, dass man mir die Vorgänge und auch die unterschiedlichen Diskussionsstandpunkte möglichst nüchtern und prägnant zur Kenntnis bringt. Und das geschieht schon wieder nicht. Als Zeitungsleser hätte ich keine Ahnung.

Meine aktuellen Lieblingstexte zur Einschätzung des Resultats kommen von Frances Coppola, einer britischen Analystin (die glaube ich nicht “links” ist, aber erzvernünftig), und dem Privatblog (!) des Handelsblatt-Redakteurs Norbert Haering. Wie alle folge ich auch Paul Mason (BBC, Guardian). Mit allen möglichen interessanten Links versorgt mich v.a. die fm4-Journalistin Johanna Jaufer auf Twitter, die zwar politisch klar (wie ich) auf Varoufakis-Seite steht, aber sehr viele unterschiedliche Quellen kuratiert und verlinkt. Dazu kommen noch diverse andere Twitter-Stimmen, meistens schon linke Ökonomen (wie u.a. Ingo Stuetzle), aber durchaus auch Leute mit anderer Meinung (z.B. der sympathische Jürgen Braatz, der offenbar Fondsmanager ist).

Wie ich auf Twitter sagte: “Bis zum Web mit Blogs, Twitter & Livestreams war man auf die dt. Presse angewiesen. Unvorstellbar, nachträglich betrachtet.” Allein schon die Möglichkeit, der hochinteressanten Varoufakis-Pressekonferenz live zu folgen. Gegenüber früher (ich bin 53) ist es ein Unterschied wie Tag und Nacht. Lobpreiset das Netz!

ErbloggtesErbloggtes
Aber “früher” war es doch ganz anders. Deine Unterscheidung, Martin, zwischen Meinungen und “Basis-Information”, ist da womöglich gar nicht hilfreich. Die Unterscheidung setzt voraus, dass die Basis-Information (Markwort: “Fakten, Fakten, Fakten”) unabhängig von Meinungen sei. Wenn das so wäre, müssten sich aber alle darüber einigen können, was nun eigentlich der Fall ist. Das ist nicht so, und zwar insbesondere nicht in der Politik, und nicht bei Informationen, die mögliche zukünftige Auswirkungen heutiger Handlungsoptionen betreffen.

Am Samstag beklagte die Journalistin Charlotte Wiedemann im Deutschlandfunk das Fehlen abweichender Positionen in der deutschen Medienlandschaft. Meinungsfreiheit bedeute eigentlich, erläutert sie, “dass man Meinungen äußern kann, die mächtigen Interessen widersprechen, und auch dass man Minderheiten davor schützt, sozusagen von Mehrheitsmeinungen erdrückt zu werden.” Sie sieht schon lange die Tendenz, dass die Presse “weitgehend den Vorgaben des politischen Apparates, des politischen Mainstreams folgt”, und damit sowas wie eine erdrückende Mehrheitsposition inszeniert (die von tatsächlichen Mehrheitsmeinungen in der Bevölkerung wohl oftmals weit entfernt liegt).

Vorwärts (1876)

Central-Organ der Sozialdemokratie Deutschlands als Gegenöffentlichkeit zum Zentralorgan der Reichsregierung, dem Reichsanzeiger

Mich erinnert diese Tendenz an ein Zeitungsphänomen des 19. Jahrhunderts: Staatsanzeiger als allgemeine Zeitung. Auf den “Amtlichen Teil” mit Gesetzesverkündigungen, Verordnungen, Erlassen und ähnlichen Staatsaktionen folgte darin der “Nichtamtliche Teil”, der das Blatt zu einer Vollzeitung machte. Als mäßig interessierter Beamter erfuhr man beim pflichtschuldigen (hier wortwörtlich gemeint) Blick in den Staatsanzeiger alles, was man zur täglichen Berufsausübung wissen musste. Der Staatsanzeiger als offizielles Regierungsorgan bot links und rechts genügend Raum für Zeitungen aller gesellschaftlichen Gruppen. Diese Blätter abseits des Staatsanzeigers kritisierten die Politik der Regierung im Sinne ihrer jeweiligen Ideologie.

Vergleiche ich das mit der heutigen Presselandschaft, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Tagespresse zu 90 Prozent Staatsanzeiger ist – natürlich einschließlich bunter Meldungen, Wirtschaft, Kultur und Sport, sowie der Beilagen, die das Publikum wissen lassen, wofür Anzeigenkunden gerade zu zahlen bereit sind. Und am Ende der meisten Politik-Artikel steht dann noch, dass die Opposition irgendwie dagegen ist.

Vielleicht spielt die Ausbreitung des Internet sogar eine beschleunigende Rolle für die Focussierung der Presse. Denn wer über bestimmte Themen mehr wissen wollte, so wie du, Martin, ist doch schon vor längerer Zeit ins Internet abgewandert und hat sich dort Special-Interest-Portale gesucht. Und die Presse konkurriert irgendwo in der “Mitte” um den Rest. Was dieser Rest am wenigsten erhält, sind Informationen, die seinen Vorurteilen widersprechen. Aber vielleicht sollte Jürgen da nochmal erklären, wie und unter welchen Voraussetzungen man denn durch Aussagen, die eigenen Vorurteilen widersprechen, zur “Wahrheit” gelangen könnte. Und wofür das gut sein soll.

Martin
Die Sicht der liberalen Presse (aus Hamburg/Frankfurt/München) als kollektiver “Staatsanzeiger” gefällt mir gut, ERbloggtes. Tatsächlich sind die in den 1970ern noch deutlich spürbaren Parteiungen ja inzwischen in der GroKo-Konsenssauce aufgelöst. Deutschland ist innenpolitisch recht einheitlich rechts-sozialdemokratisch und außenpolitisch meistens vorsichtig und relativ zivilisiert. Ich als Bayer kann mich z.B. schon lang nicht mehr richtig über die CSU aufregen, andererseits wird etwa mein grüner Bruder immer konservativer, usw.

Nur wird dieser Konsens anscheinend bezahlt mit Selbstbetrug und Selbstgerechtigkeit, die sich in erster Linie in der gemeinsamen Wohlstandsideologie äußern. Das wird um so verkrampfter, als man spürt, dass es dieser heilen Welt gerade den Boden unter den Füßen wegzieht: dafür steht die neue Finanzdynamik (a.k.a. “die Schulden und die Märkte”) ebenso wie das Internet (Blogs und Twitter). In den zum Teil saukomischen Ausfällen gegen “die Griechen” im allgemeinen und Varoufakis im besonderen (Stern-Jörges in 2 Min. Video-Kommentar!) kommt dieser Tunnelblick besonders klar zum Ausdruck.

Wir leben in dieser gespaltenen Welt: Die Berliner Republik läuft immer noch auf dem alten massenmedialen Betriebssystem: Glotze, BILD und ZEIT/FAZ/SZ/SPIEGEL. Die eigentlich relevante Euro-Politik wird derweil auf Englisch im Netz verhandelt. (In Brüssel reden sie ja eher Euro-Pidgin als Englisch. Die Sprachkluft scheint mir übrigens in Deutschland besonders stark zu sein.)

Dierk HaasisDierk
Klar, auch die Zusammenstellung von Fakten beruht – bei beschränktem Platz, wie in Zeitschriften – auf einer Meinung, Erbloggtes. Allerdings beobachte ich wie Martin in deutschen Gazetten einen Überhang an Meinung – leider auf wackliger Grundlage gebildet. Im besten Fall findet sich eine grundsätzliche Redaktionslinie, die dem interessierten Leser bekannt ist. Viel zu oft ist nicht einmal das der Fall, weil sich alle grösseren Zeitschriften als ‘Diskussionsplattform’ darzustellen versuchen.

Selbst wenn es eine erkennbare Redaktionslinie gibt – bzgl. der Finanz-/EURO-/Griechenlandkrise scheint die bei allen ziemlich gleich geschaltet –, bräuchte der Leser mehr als die Soap-Opera-Berichterstattung, die er bekommt. Wir lesen viel über heraus hängende Hemden, Motorradtouren, Coolness, wir bekommen Pseudo-Psychogramme auf Tatort-Niveau. Was fehlt, sind nicht nur Fakten, sondern oft durchaus grundlegende Zusammenhänge.

Auf der einen Seite wird, um bei Wirtschaft zu bleiben, immer wieder vorgeworfen, wie wenig die Deutschen über Wirtschaft wissen. Auf der anderen wird nur in Buzzwords mit Kriegsrethorik berichtet. Die schwäbische Hausfrau schlägt da den Athener Prasser. Ökonomische Alternativen? Politische Ideen? Ökonomische und politische Folgen? Nada. Nichts. Ersatzweise wird eine vage Ideologie aus protestantischer Schuldethik und technologischer Algorithmengläubigkeit postuliert. Auch hier: ohne weitere Begründung.

Ohne die von Martin angesprochene Möglichkeit, Nachrichten und Meinungen aus aller Welt schnell und unkompliziert über das Internet zu rezipieren, würden wir nicht einmal ansatzweise die Sichtweisen ausserhalb der regierenden und publizierenden Eliten kennen. Was z.B. Karl Kraus vor hundert Jahren dazu brachte, eine eigene Zeitung herauszugeben. Nicht, dass er der erste [oder letzte] gewesen wäre, der sich in der Vor-Internet-Zeit über eine Presse entsetzte, die wesentlich einem Stenografie-Pool der Regierung entsprach.

Selbstverständlich war es in den 1960ern und 70ern einfacher eine Meinung zu haben: Wer sich im politischen Feld links sah, bekam seine Vorurteile von der FR bestätigt, die konservativen hatten ihre FAZ, das liberale Klientel hielt sich an SZ oder ZEIT. Das war damals Meinungsvielfalt. Heute erhalten wir mehr Stimmen, die wir alle lernen sollten einzuordnen. Ein Bildungsauftrag, der zu meiner Schulzeit ‘Lernen zu lernen’ hiess.

jhermesjhermes
Aber wodurch lernen wir, sie einzuordnen? Versteht mich nicht falsch, ihr seid meine Peer Group, wir hören wohl in den meisten Fällen auf die gleichen Stimmen und ordnen sie in die gleichen Lieblingsschubladen ein. Die Filterblase auf Twitter hält in den meisten Fällen dicht und ist mehr oder weniger meine erste, zu einigen Themen auch einzige Quelle der Informationsbeschaffung. Ich bin ja auch sehr froh darum, dass ihr euch umtut und mir den guten Stoff in die Timeline spült. Die Bewohner anderer Filterblasen allerdings bekommen völlig anderes aufgetischt. Man riskiere einmal einen Blick auf die angesagten Beiträge auf Google+. Natürlich ist jedes seiner eigenen Filterblase Aufpuster – Luftpumpen sind da auch bisweilen die eigenen Vorurteile. Diese sind natürlich nicht, wie ERbloggtes zu Recht anmerkt, das Gegenteil von Wahrheit. Wahrscheinlich reichen wir an letztere mit mehr und direkteren Quellen tatsächlich näher heran. Ich wollte nur zur Wachsamkeit mahnen – Spinner finden im Internet eben auch ihresgleichen. Zu den Leuten, die Lügenpresse rufen, gehören wir ja nicht. Wir sehen das ja nur differenziert. Oder?

ErbloggtesErbloggtes
Ich nicht. Lügenpresse ist genauso differenziert wie Wahrheitspresse. Und wenn “die” deklarieren, dass sie die Wahrheit gepachtet hätten, dann bleibt mir nichts anderes übrig als das zu bestreiten – ob nun dezent ironisch oder deutlich. Wenn nur die Wahl bleibt, uns mit den Standpunkten von abseitigen Spinnern oder mit denen des Medienmainstreams zu identifizieren, dann müssen wir diese Wahl wohl treffen.

Anmerkungen:
1. Weswegen Wolfgang Menges Ekel Alfred auch schön von allen auf den Kopf bekam.
Weswegen Wolfgang Menges Ekel Alfred auch schön von allen auf den Kopf bekam.
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5 Kommentare zu Meinung verloren im Meinungspluralismus?

  1. Ich habe da zum Thema „Meinung im Journalismus“ mal was aufgeschrieben: Journalismus in einer offenen Gesellschaft. Darüber, was es mit „Meinung“ und „Haltung“ auf sich hat, und wie Objektivität im Journalismus geht – wenn man sie vernünftig definiert.

  2. vera bunse sagt:

    Noch einer: Die Meschen haben Angst vor der mit unglaublicher Geschwindigkeit zunehmenden Komplexität. Es ist nur zu verständlich, dass sie die Bestätigung der eigenen Ansichten als Versicherung gegen die eigenen Ängste der Beschäftigung mit komplizierten Sachverhalten vorziehen. Das war immer so, nur war es nie so auffällig.

    Das Problem ist das Fehlen der übergreifenden gesellschaftlichen Diskussion, die in der Zerfaserung der Diskurse in unzählige Mikrokanäle verloren ging. Die Folge ist die breite Zustimmung zu kleinsten gemeinsamen Nennern, wie etwa Pegida — auf ‘Lügenpresse’ können sich “alle” einigen, obwohl jeder etwas anderes damit meint. Die Behauptung ist damit an die Stelle der gesicherten Tatsache getreten und wird als Wahrheit verbreitet.

  3. Lars Fischer sagt:

    Als Vertreter der Wahrheitspresse muss ich hier (ich weiß, ich hätt mitdiskutieren sollen) auf ein strukturelles Problem hinweisen, das die Meinungsvielfalt ganz grundsätzlich einschränkt. Je schlechter es dem Journalismus geht, desto stärker ist die soziale auswahl. Das scheint mir das zentrale Problem zu sein, denn wer nicht mal eben Reserven hat, um zwei Jahre Praktikantenvergütung zu überstehen, ist raus. Der deutsche Journalismus ist letztendlich der Journalismus jener Schicht, die einerseits dafür das Geld hat und andererseits auch den ideologischen Hintergrund, das auf sich zu nehmen.

    • Erbloggtes Erbloggtes sagt:

      Stephan Russ-Mohl gestern in der NZZ:

      Es sind ja nicht nur Pegida-Demonstranten, die «Lügenpresse» skandieren.

      Das ist ein guter Erklärungsansatz, Lars. Wenn ich mich recht entsinne, wird dieses Erklärungsmodell in Uwe Krügers Dissertation als Wert-Homophilie bezeichnet, die bereits durch die Rekrutierungsbedingungen vorab hergestellt werde (im Gegensatz zu Wert-Homophilie, die nachträglich im Beruf, z.B. durch ständigen Lobbykontakt, erzeugt würde).

      Zuerst wollte ich erwidern, dass dieses Modell zur Erklärung nicht ausreiche, weil es dem Journalismus erst seit 2001 rapide schlechter gehe und die heutigen Entscheider doch schon zuvor rekrutiert worden seien. Doch dann habe ich mal überlegt und nachgesehen:

      Zum Beispiel Cordt Schnibben, Jahrgang 1952, gehört zu den ältesten Alpha-Journalisten und den jüngsten Alt-68ern (als Schüler) samt roter Phase, konnte erst Mitte der 1980er im Journalismus landen. Heribert Prantl, Jahrgang 1953, stieg erst 1988 in den Journalismus ein. Leute wie Ines Pohl, Stefan Kornelius, Franziska Augstein, Jakob Augstein, Nikolaus Blome sind noch mindestens 10 Jahre jünger, journalistische Prägung erst in der Ära Kohl. Und dann fängt er auch schon an, der freie Fall der Auflagen: Beispiel “Bild”.

      Vielleicht sollten wir mal eine Suchaktion starten:
      +++ GESUCHT: ALIVE +++
      - Ostdeutsche Bauerntochter, die eine Entscheidungsposition in einem deutschen Leitmedium inne hat.
      - Kind (mit mindestens zwei Geschwistern) eines ungelernten Arbeiters im Ruhrbergbau, heute Ressortleitung einer überregionalen Zeitung.
      - Seemannsnachwuchs mit Abendschul-Abitur und Chefredakteursposten in einer Tageszeitung mit Auflage über 20.000.

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