Schreiben Kinder offene Briefe?

christoroliachristorolia
Heute geht der Brief eines 9½jährigen Mädchens durchs Netz, mir aufgefallen bei twitter. Es handelt sich um einen (guten) Leserbrief des Kindes an DIE ZEIT zum heiß diskutierten Thema “das Wort Neger in Kinderbüchern”. Das eigentliche Thema soll hier mal außer Acht gelassen werden, das wird an anderen Stellen ausgiebig diskutiert. Es geht mir hier um die Art der Veröffentlichung , um das massive Verbreiten dieses Briefes, welches ich als total verantwortungslos gegenüber dem Kind und seiner Familie empfinde. M.E. bringt es die Familie in Gefahr und das hier absichtlich, nur um die eigene Meinung Kund zu tun. Fehlt noch, dass die Anschrift mit genannt wird, die aber auch so problemlos herauszufinden sein dürfte. Dieser tweet hier

https://twitter.com/christorolo/status/293652711180738560

blieb leider bis jetzt – 11:00 Uhr – nicht zufrieden stellend beantwortet, jedenfalls nicht für mich sichtbar. Was denkt ihr dazu? Ich habe ja noch die Hoffnung, dass der Brief gar nicht echt ist…

Dierk HaasisDierk
Stimmt nicht ganz, es gab vorhin einen Tweet, der das beantwortete, den ich auch RT habe:

https://twitter.com/hakantee/statuses/293490397634785280

Verifiziert habe ich das nicht.

ErbloggtesErbloggtes
Das Kind kann gar nicht darin einwilligen, dass der Brief veröffentlicht und verbreitet wird. Dazu müsste es ja einschätzen können, was das bedeutet, und inwiefern es sich und seine Familie in Gefahr bringt. Die Eltern können wirksam einwilligen. Aber ob das eine gute Idee von ihnen ist?
Im November machte der vergleichbare Brief einer Zehnjährigen an Obama die Runde, sowie Obamas Antwort. Kinder sollten gern Briefe an Institutionen schreiben. Aber die Veröffentlichung müssen andere verantworten. Deren Motive sind andere als die des Kindes, und sie berücksichtigen die Interessen des Kindes meines Erachtens nicht genug. Denn das Kind hat sich nicht gedacht: “Ich verfasse jetzt mal ein Propagandaschriftstück, das auf maximale Emotionalisierung von Erwachsenen abzielt, weil darin ein Kind spricht.” Das Kind wird daher zum Werkzeug anderer Interessen (hier: Propaganda – vielleicht der guten Sache, aber das muss nicht immer so sein) degradiert, worin es nicht wirksam einwilligen kann. Das lehne ich ab.

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16 Kommentare zu Schreiben Kinder offene Briefe?

  1. Antje sagt:

    Moin,

    mag sein, dass es schon irgendwo in euren Texten oder Kommentaren stand: Die Mutter des Mädchens habe den Brief auf Facebook gepostet, schreibt jetzt.de. Ob sie das Kind vorher um Erlaubnis gefragt habe, steht da allerdings nicht.

    • @mschfr sagt:

      Danke für den Hinweis, das verändert dann doch einige dieser Aussagen. V.a. weil hier anscheinend die Presse gar nicht gehandelt hat und den Leserbrief nicht veröffentlichte (Pfui, liebe ZEIT ;) ), sondern die Mutter.

  2. Hans Zauner sagt:

    @erbloggtes
    “…Kindern die Verantwortung dafür aufladen, in der Weltöffentlichkeit zu sprechen…”

    Ist das nicht ein wenig hoch gegriffen? Erstmal interessiert die Debatte hauptsächlich im deutschsprachigen Raum. Ich halte es für unwahrscheinlich, dass ein amerikanischer Tea-Party-Anhänger ins Flugzeug steigt, um vor dem Haus des Mädchens zu protestieren. Aber gut, Internet ist Weltöffentlichkeit. Für maximal 48 Stunden, länger halten sich solche Geschichten doch nicht.

    Meinung äussern bringt Verantwortung, ja. Und ich sag ja nicht, dass sich die Eltern ganz raushalten sollen und ihre Kinder im Internet einfach mal machen lassen. Aber in diesem Fall ist das Risiko doch überschaubar. Und nochmal: Bürgerrechte gelten auch für Kinder, und das Recht auf freie Meinungsäusserung ist nicht mit Altersbeschränkung versehen.

    Und weil das Thema aufkam: Ja, ich finde wir sollten das Wahlalter senken. Vielleicht nicht auf 9, aber vielleicht auf 14 Jahre. Aber das ist ein Thema für einen anderen Kneipenabend.

    • Sorry, kurzer Nachtrag der Form halber:
      Ich habe gestern unter meinem Blogger-Namen Panagrellus gepostet, heute als Hans Zauner – nur um keine Irritationen aufkommen zu lassen, wir sind beide ich. Entschuldigung für die Verwirrung.

    • Erbloggtes Erbloggtes sagt:

      Dann müssen wir vielleicht anders ansetzen und erstmal klären, warum es das Konzept der Volljährigkeit gibt, ob es eine gerechtfertigte Regelung ist, und wo die Grenze liegen sollte. (Eine Wahlrechtsaltersenkung unter 16 fände ich z.B. erstmal nicht gut.)

      Ich finde es ganz ausgezeichnet, dass das Mädchen einen Brief an die Redaktion geschrieben hat. Denn ihre Stimme war genau die, die dort nie gehört wurde. Ich finde es aber unverantwortlich von den Eltern, den Brief ohne Persönlichkeitsrechtsschutz des Kindes in der Weltöffentlichkeit zu verbreiten (wobei sie das womöglich gar nicht beabsichtigt haben – social media fail). (Die Weltöffentlichkeit sehe ich im Prinzip gegeben, der oben erwähnte Brief einer Zehnjährigen an Obama ist offensichtlich weltweit gelesen worden.) Und es sind nur die Eltern, die das zu verantworten haben, nicht das Kind selbst. Dadurch sind es auch dann die Eltern, die das Kind als Sprachrohr genutzt (um unschönere Worte zu vermeiden) haben, wenn das Kind den Brief allein verfasst hat. Das Kind ist nicht “selbst Schuld”, egal, was daraus noch wird.

      Stellen wir uns kurz den Fall vor, dass das Kind in 20 Jahren bereut, diesen Brief geschrieben zu haben – aus welchen Gründen auch immer: Rassistische Übergriffe mag man für unwahrscheinlich erklären. Es gibt sie. Wenn die Angelegenheit nun noch weitere Kreise zieht (z.B. weil Die Zeit auf den viralen Zug aufspringt und ihrerseits den Brief druckt) mögen das auch 15 Minuten Ruhm sein, die mit dem Namen verbunden, im Internet auffindbar bleiben (weshalb ich hier den Namen nicht nenne und auch den anderen Diskutanten dafür danke, das nicht zu tun – anders als der unverantwortliche jetzt-Beitrag, der demonstriert, dass das Mädchen offenbar für die Presse nun jedes Recht auf Privatsphäre verwirkt hat, weil es sich ja “selbst” in die Öffentlichkeit begeben hat). Möchte die Briefschreiberin beim Bewerbungsgespräch in 20 Jahren gefragt werden: “Sind Sie dieses Mädchen, das dafür gesorgt hat, dass man Leute wie Sie nicht mehr so nennen darf, wie unsere Urgroßväter das gemacht haben?” Ich bezweifle das. Ich bin aber auch der Ansicht, dass eine 9-Jährige es nicht verantworten muss, wenn sie einen solchen Brief schreibt und sich daraus Unerwünschte, Ungewollte, bis hin zu schrecklichen Reaktionen ergeben. Das müssen die – auch moralisch – verantworten, die rechtlich verantwortlich sind. Das sind die Eltern.

      Ich würde diese Last nicht tragen wollen. (Ich würde mein Kind aber auch nicht zu einer Miss-Wahl schicken, auch wenn es das zu wollen erklärt, würde es auch nicht “Kinderstar” werden lassen, selbst wenn es begabter wäre als all die armen Kinder, die dort ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Wenn sie das “selbst wollen”, dann wissen sie doch gar nicht, was sie da wollen.)

      Danke schön für die Debatte – sie zeigt doch, wie unterschiedlich Kinder betrachtet werden können.

      P.S.: Man beachte Art. 5, Abs. 2 GG, der die Meinungsfreiheit “zum Schutze der Jugend” einschränkt.

    • christorolia christorolia sagt:

      Verschüttetestes Wissen: Das Selbst als konzeptuelles Konstrukt ergibt sich aus individueller und sozialer Erkenntnis. Selbstkonzepte treten erst in einer relativ späten Phase der kognitiven Entwicklung erstmalig auf, nach Piaget so um das zehnte Lebensjahr. Selbstkonzepte organisieren Erfahrungen, die an Wahrnehmungen der eigenen Gefühle, Gedanken, Befindlichkeiten, des eigenen Körpers usw. gebunden sind.
      Mag sein, dass dieses Wissen mittlerweile verfeinert worden, etwas veraltet ist, ich kann aber aus eigener – bei zwei eigenen Kindern zugegebenermaßen bescheidenen – Erfahrung guten Gewissens behaupten, dass da was dran ist. Das Selbstkonzept eines zehnjährigen Kindes reicht i.d.R. nicht, um die Folgen eines mit Klarnamen im Netz verbreiteten Briefes ausreichend abschätzen zu können.

      Mittlerweile kommen ja auch neue Fakten ins Spiel: Durch den Artikel auf der Web-Site jetzt.de der Süddeutschen Zeitung – danke an @HansZauner für den tweet hier – wird klar, dass die Verbreitung des Briefes vor allem durch die Initiative der Mutter erfolgte.
      Mit diesen Erkenntnissen (nehmen wir die mal als solche) komme ich logisch ins Schlingern. Wenn dem Kind diese selbstkonzeptuelle Reife zuzugestehen ist, einen solchen Brief zu formulieren und mit eigenem Klarnamen zu unterschreiben, sollte es dann nicht auch selbst für die Verbreitung sorgen und anschließende Diskussionen selbst führen?

  3. @Mschfr sagt:

    Mal in die Runde gefragt: Ist es nicht gerade der Sinn und Zweck eines Leserbriefes, dass er veröffentlicht wird? Und wird nicht auch das Kind beim Verfassen des Briefes die Unterstützung seiner Eltern gehabt haben und damit auch impliziert die Erlaubnis zur Veröffentlichung? Ich halte es auf jeden Fall für eher unrealistisch, dass ein 10jähriges Kind a) selbstständig die ZEIT liest b) alleine auf die Idee eines Leserbriefes kommt c) diesen schreibt und d) die Adresse der Redaktion herausfindet, Briefmarken kauft und den Brief abschickt. Ich glaube auch nicht, dass man sich und seine Familie durch das Schreiben eines Leserbriefes in Gefahr begibt. Trotz NSU dürfte es in Deutschland keine Organisation oder Person geben, die aufgrund dieses Briefes ein kleines Kind irgendwie bedroht oder gar körperlich angreift.

    Interessant ist vielmehr, dass sich hier (endlich) mal jemand aus der Zielgruppe zu Wort meldet. Die Diskussion über die Kinderbücher wurde ja vor allem von weißen alten Menschen geführt, die über die Kinderbücher ihrer Jugend palavert haben. Kinder, Migranten oder gar Migrantenkinder kamen bislang überhaupt nicht zu Wort – keiner hat auch nur ansatzweise mal bei Farbigen nachgefragt, ob sie sich durch das Wort “Neger” beleidigt fühlen. Das erinnert an die Sarrazin-Debatte, wo auch völlig weltfremd über “Kopftuchmädchen”, bildungsferne Schichten, Parallelgesellschaften und was auf immer diskutiert wurde ohne dass die Betroffenen mal gefragt wurden. Da braucht man jetzt auch nicht zu diskutieren, ob das Kind den Brief selbst geschrieben hat.

    • Erbloggtes Erbloggtes sagt:

      Endlich mal jemand, der die Gegenpositon vertritt! Du bist also der Ansicht, Michael, dass wenn ein Kind nickt und sagt “ja, das will ich”, dass es damit wirksam in weitreichende Entscheidungen eingewilligt hat, die es nicht überblicken kann?

      • @Mschfr sagt:

        Unterschätze mal nicht die Kinder. Eine 10jährige ist eben nicht nur ein völlig willenloser Roboter, sondern hat schon eine eigene Meinung. Die ist zwar sicherlich stark von den Erwachsenen beeinflussbar, aber das ist auch bei manchem 30jährigen noch so.

        Ansonsten gibt es den wunderbaren Begriff des Kontrollverlustes – wenn du einen Leserbrief abschickst, rechnest du damit, dass er in der Zeitung abgedruckt wird und nicht, dass er plötzlich zum viralen Phänomen wird. Genauso wie du etwa nicht damit rechnest, dass dein Besuch einer Technoparty plötzlich von mehreren Millionen Menschen gestaunt wird. Trotzdem sitzt du (hoffentlich ;) ) nicht zuhause im Keller vor lauter Angst vor dem bösen Internet und seinen viralen Memes.

        Ich sehe auch nicht deine Bedenken, was eine Gefahr betrifft. Ja, wir haben die NSU-Terroristen gehabt. Ja, wir haben gewalttätige Neonazis. Aber glaubst du wirklich, dass dem Kind jetzt irgendwas schlimmes passiert? Einzig und alleine die Google-Suchergebnisse zu ihrem Namen werden auf Jahre von dem Brief dominiert werden, aber sonst? Mobbing in der Schule? Gewalttätige Angriffe?

        • @Mschfr sagt:

          Merke: Hier fehlt eine Edit-Funktion für Kommentare, ansonsten werde ich euch auch weiterhin mit peinlichen Tippfehlern belästigen.

        • christorolia christorolia sagt:

          Klar, 10jährige Kinder sind keine völlig willenlosen Geschöpfe. Ich unterstelle aber (aus eigener Erfahrung), dass sie in diesem Alter die möglichen Folgen kaum abschätzen können. Ich als Elternteil würde in einem solchem Fall – vorausgesetzt mein Kind schreibt einen solchen Brief selbstständig – die Veröffentlichung des Namens unterbinden. Der gleiche Brief könnte ohne Angabe des Namens mit dem Hinweis auf den Adressaten (DIE ZEIT) im Netz veröffentlicht werden, verbreitet beispielsweise von Freunden, mit ähnlichem Effekt. Wie schon gesagt, der Brief an sich ist gut!

          Ich gebe Dir einerseits Recht, dass etwas dramatisch Schlimmes passiert, ist unwahrscheinlich. Andererseits, die Gefahr für “leichtere” Übergriffe wie mobbing oder Haus beschmieren sehe ich nicht so locker wie du. Falls nicht mobbing o.ä. sowieso der Auslöser dieses Briefes war.

          • Panagrellus sagt:

            Ich bin ganz auf der Seite von Mschfr. Natürlich hört man da die Meinung der Erwachsenen durch, die auf das Kind abgefärbt hat – so ist das eben in Familien. Und ja, wahrscheinlich haben die Eltern auch beim Verfassen des Briefes geholfen – umso besser.

            Solange das Kind aber nicht an den Schreibtisch geknüppelt wurde, um den Brief zu verfassen – und danach sieht es nicht aus -, solange hat dieses Mädchen das Recht, an der Debatte teilzunehmen wie jeder andere Bürger auch. Mögliche Konsequenzen haben die Eltern hoffentlich mit dem Mädchen besprochen, insoweit gebe ich euch recht.

            “Kinder darf man sehen, aber nicht hören” : Ich hoffe, das war einmal. Und was die Gefahr des Mobbings etc. angeht: ja, das ist das Risiko, wenn man eine Meinung hat. Nicht nur im gefährlichen Internet, auch auf dem Pausenhof und im Klassenzimmer. Wollen wir wirklich eine Generation von Wegschauern, aus Angst, unseren Kindern könnte ein Nachteil entstehen, wenn sie den Mund aufmachen?

          • Erbloggtes Erbloggtes sagt:

            Warum sollte man denn Kindern die Verantwortung dafür aufladen, in der Weltöffentlichkeit zu sprechen, wenn man ihnen kein Wahlrecht einräumt, keine Geschäftsfähigkeit usw.?
            “Weil Kinder auch eine Meinung haben” ist keine Antwort darauf.

          • @Mschfr sagt:

            Gegenfrage, erbloggtes: Warum sollten Kinder nicht in der Weltöffentlichkeit sprechen dürfen? Wahlalter, Geschäftsfähigkeit & Co haben etwas mit einer gewissen Reife zu tun. Ein Sechsjähriger kann wohl schlecht über die Bundesregierung abstimmen, weil er das politisch noch nicht überblicken kann. Aber warum sollte er sich nicht äußern dürfen? Warum sollten Kinder keine Leserbriefe an die ZEIT schreiben dürfen, wenn diese sogar eine eigene Kinderseite hat?

  4. Ute Gerhardt sagt:

    Vorweg, mal ganz polemisch und provokant: Der Brief klingt für mich zumindest in weiten Teilen so, als hätte das Kind Bruchstücke von Unterhaltungen Erwachsener aneinandergereiht, die es mehr oder weniger zufällig mit angehört hat. Authentisch wirkt der Text auf mich nicht.

    Ich schließe mich daher “Erbloggtes” über mir an: Die Intention des Kindes wird wahrscheinlich gar nicht erst bedacht. Das Kind wird durch die Veröffentlichung schlicht zum Sprachrohr der Eltern gemacht. Frei nach dem Motto: “Guckt mal, wenn sogar ein unschuldiges Kind das fordert, dann muss es doch richtig sein!” Ob den Eltern all das in ihrem Stolz und Eifer überhaupt bewusst ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.

    Ich persönlich würde mein Kind zumindest vorher fragen, ob es OK ist, wenn ich den Brief auch anderen Leuten zeige. Eine Erklärung über mögliche Folgen gäbe es selbstverständlich auch. Vielleicht ist das auch in diesem Fall geschehen. Vielleicht auch nicht. Dass die Eltern allerdings den vollen Namen des Kindes lesbar gelassen haben, ist absolut fahrlässig.

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