Kunstgenuss

‘Nabend! Ist hier noch frei? Danke. Einen Baileys hätte ich gerne.

Kommt ja nicht oft vor, dass ich mich in eine Kneipe setze, aber heute fällt mir die Decke auf den Kopf. Prost!

Zum Glück ist Weihnachten endlich vorbei. Ich kann ja mit dem ganzen Kirchengedöns nicht so viel anfangen. Ich meine, die Musik ist klasse. Ich hör’ gerne alte Musik und ich weiß, dass vieles davon für Kirchenfeste und -fürsten geschrieben wurde. Messen und so weiter. Die Konzerte zur Weihnachtszeit sind das Einzige, das ich an Letzterer wirklich schätze. Tolle Musik! Ich bin auch halbwegs bibelfest, trotz Atheismus.

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Bach: Suiten für Violoncello solo (Ausschnitt)

Jetzt will mir aber Hinz und Kunz ernsthaft weismachen, meine Kinder müssten am Religionsunterricht teilnehmen, damit sie später auch mal was von dieser ganzen Musik haben. Sie “richtig” zu schätzen wissen. Und wissen Sie was? Das will mir so gar nicht in den Kopf. Wenn ich neue Musikstücke aus Renaissance, Barock, Klassik etc. höre, aber erst nachträglich erfahre, wofür sie geschrieben wurden, ändert das überhaupt nichts an meinem Musikgenuss. Verstehen Sie, was ich meine? Die Gefühle beim Hören sind immer noch genau die selben. OK, ein bisschen Hintergrundwissen schadet nicht, aber es ändert auch nichts. Ich beurteile Musik schlicht nicht nach der Intention, mit der sie geschrieben wurde, weil sie in den allermeisten Fällen für sich selbst spricht. Oder vielleicht auch gar nicht spricht, sondern einfach ist. Schließlich kann ich auch Musik toll finden, deren Text einfach nur unter “Kitsch” fällt. Oder sogar Musik, wo ich nicht einmal die Sprache der Texte beherrsche.

Ähnlich ist es mit der Malerei. Ich kann ein Bild oder sogar ein Kirchenfenster handwerklich toll finden und es mir gerne ansehen, auch wenn ich nicht genau weiß, welcher Heilige oder welche biblische Szene darauf dargestellt ist.

Ich sehe ja ein, dass ein gewisses Maß an Allgemeinbildung auch beim Thema Religion nötig ist, um z.B. bei den Bildern von Max Ernst die Gesellschaftskritik zu verstehen oder sich ein Bild von Bachs Lebensumständen und Auftraggebern zu machen. Das ist eine Sache. Aber nicht, um meinen persönlichen Genuss zu erweitern. Der hängt für mich immer am Kunstwerk an sich und seiner Ausführung. Das ist ein anderes Paar Schuhe.

Wie sehen Sie das?

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13 Kommentare zu Kunstgenuss

  1. Sarah Maria sagt:

    Es ist ja eigentlich nie zu früh, um in einer netten Kneipenrunde zu versacken, dummerweise bin ich aber gerade auf dem Sprung und hätte gern Etwas, das ich mir in meinen Coffee-To-Go kippen kann.

    Ich kannte erst Bach und dann Religion. Bin nämlich nicht getauft worden von meinen Eltern, Musik haben sie aber unermüdlich gehört. Vorwiegend Mozart und Bach. Noten lesen konnte ich auch schon bevor ich überhaupt lesen konnte. Daher kann ich auf mich bezogen mit absoluter Sicherheit sagen, dass es ziemlicher Nonsense ist.

    Hintergrundwissen macht nicht die Basis des Hörgenusses aus. Angenommen ich hätte sämtliches Hintergrundwissen zur 12-Ton-Musik in mich aufgesaugt, würde das noch lange nicht bedeuten, dass simsalabim meine Hörgewohnheiten durch das reine Wissen so trainiert sind, dass Schönberg zum Genuss wird. Diese Musik ist mir erst mit der Zeit, mit einsetzendem Hörverständnis zugänglich geworden.

  2. Ute Gerhardt Ute Gerhardt sagt:

    “Ich störe mich nur daran, dass diese Analyse oft als die zweite, höherstehende, mehrwertige Art von Genuss angesehen wird. ”

    Genau das ist der erste Punkt, um den es mir geht. Ich möchte wetten, dass es zahlreiche Leute gibt, die zwar hochtrabend über Bach fachsimpeln können, die aber beim Hören der Stücke nie die selbe Tiefe der Freude empfunden haben wie so mancher, der gar nichts über die Hintergründe weiß.

    Den zweiten Punkt hat Dierk angesprochen. Denn leider ist der Reliunterricht in NRW 1. leider nur am Christentum orientiert und 2. oft genug eben doch konfessionell. Ich find’s dann doch etwas fragwürdig, dass die Wissensvermittlung um Kunst und Kultur herum offenbar untrennbar mit Indoktrinierung verbunden ist. Solange die Kirchen entscheiden dürfen, wer Religion unterrichten darf, ist ja abzusehen, dass nur echte Gläubige zugelassen werden, die dann auch entsprechend unterrichten. Gläubige Religionswissenschaftler können m.E. von vornherein nicht neutral an sowas rangehen. Ist ein hoher Preis, den Eltern und Kinder da zahlen, für das bisschen Extrawissen.

    • Erbloggtes Erbloggtes sagt:

      Das würde aber im Umkehrschluss auch bedeuten, dass ungläubige Religionswissenschaftler auch von vornherein nicht neutral an sowas rangehen könnten. Ich würde lieber unterscheiden zwischen Aussagen vom Typ “ich glaube an x” und Aussagen vom Typ “die Wissenschaft hat festgestellt, dass y”. Zu letzteren sollte man als Lehrer willens und in der Lage sein, ganz egal, was man bei ersteren für ein x einsetzt.

      • Ute Gerhardt Ute Gerhardt sagt:

        Das sehe ich etwas anders, denn Nicht-Gläubige würden keine Religion mit dem Unterton von “aber dieser hier ist der wahre Glaube!” unterrichten.

        Erfahrungsgemäß ist neutraler Unterricht durch Gläubige nicht möglich.

  3. jhermes jhermes sagt:

    Aus Bildungsbürgersicht (wenn ich mir die, liebe Bildungsbürger, mal kurzfristig ausleihen darf) hat Dierk natürlich völlig Recht. Je mehr man weiß um Symbolik, Zusammenhänge, Historie, Psychologie des Schaffenden, desto tiefere Erkenntnisebenen des Kunstwerks können erschlossen werden. Analyse per Intellekt. Verstehen durch Wissen.
    Ich störe mich nur daran, dass diese Analyse oft als die zweite, höherstehende, mehrwertige Art von Genuss angesehen wird. Vielleicht ist es manchmal auch die einzige Art von Zugang, die man bekommt, aber sie ist nicht mehr wert als die andere, die Dierk als emotionale Verständnisebene bezeichnet. Verständnis ist da vielleicht der falsche Begriff – was passiert, wenn ich Gefallen an einem Kunstwerk finde, ist es eine Berührung dessen, was sich mein Gehirn als meine Seele zusammenkonstruiert. Was mir immer wieder von neuem dabei hilft, einen Teil von mir selbst zu verstehen. Bzw. von dem, was ich dafür halte.

    (Ja, im Idealfall trifft natürlich beides zusammen, ich betrachte beide Wege des Zugangs aber zumindest als gleichwertig)

    ((Und wenn mir jetzt jemand Empfänglichkeit für Kitsch unterstellen will, können wir gerne vor die Tür gehen.))

  4. @mschfr sagt:

    Wirt! Einen doppelten Korn! Tschuldigen se bitte, war nen langer Tag. Wissen se wat? Ihr hier mit eurer klassichen Musik. Als ich noch nen kleiner Junge war, da konnte ich noch nich so gut Englisch, und als ich dann anfing die Musik für mich zu entdecken, ich bin ein großer Musikfan wissen se, da hab ich dann erst die Platten meines Vadders durchgehört. Beatles, Stones, Kraftwerk, Genesis, so’n Zeuchs. Und dann Napster, das war damals ne echte Revolution, das könnt ihr Jungspunde mit eurem YouTube und Spotify euch gar nicht mehr vorstellen, aber wo war ich stehen geblieben? Ach ja, da als kleiner Junge konnte ich auch kaum Englisch und Lyrics gab’s auch nicht überall. Und ohne Internet erst recht nicht. Ich hab daher keinen Deut von dem Kram da verstanden, was die da gesungen haben. Hat mich aber nie dran gehindert die Musik gut zu finden. Ich weiß ja nicht, wie dat mit euer klassischen Musik da so ist, abba ich wüsste jetzt nich, warum dat da anders sein sollte. Manchmal ist dat sogar besser wenn man nich weiß, was für nen Schrott die da singen, dieser textliche Unfug hat mir dann später echt einige Lieder versaut. Na jetzt guckt nicht so miesepeterisch, ich wollt euch ja kein Schnitzel an die Backe labern, sondern nur nen Korn trinken. Ich geh ja schon.

  5. Dierk Haasis Dierk Haasis sagt:

    Dette sind ja zwei Fragen. Die erste hat tre_bol schon gut beantwortet, der verständnisvolle Genuss von Bach allein, ist natürlich kein gutes Argument. Nicht einmal, wenn wir das Ausweiten auf die gesamten kulturellen Errungenschaften des Abendlandes – Literatur, Kunst, Architektur, Musik, sie sind alle bis heute massiv geprägt von religiösen Geschichten und Symbolen. Aber das sind Zusammenhänge, die in den entsprechenden Fächern erläutert werden sollten [kursorisch; für die Tiefe reicht's naturgemäß in der Schule nicht].
    Dass Kinder Religionsunterricht besuchen sollten, halte ich allerdings auch für richtig. Ebenso wie sie im Sport, beim Schwimmen, im Kunstunterricht etc. nicht zu fehlen haben. Voraussetzung ist dabei die Ausrichtung des Faches nach wissenschaftlichen Kriterien, in diesem Fall z.B. der vergleichenden Religionswissenschaft. Da ich in HH zur Schule gegangen war, kenne ich gar nichts anderes, Konfessionsunterricht gehört nicht in die Schule, sondern in die Kirche.
    Deine zweite Frage bezieht sich auf die Frage ‘Was will uns der Dichter damit sagen?’ Nun ja. Der New Criticism stellte das Werk an sich in den Mittelpunkt, alle Analyse habe sich darauf zu konzentrieren, externe Informationen sind zu ignorieren. Das klappt allerdings nur aus einer bildungsbürgerlichen Perspektive, in der die historischen und kulturellen Grundlagen der Gesellschaft bereits bekannt sind.
    Ist Bach ohne Wissen um religiöse Symbolik zu genießen? Klar. Das ist die erste, emotionale Verständnisebene eines jeden Werkes: Macht es mich , gefällt es mir, will ich mich weiter damit beschäftigen, will ich mehr wissen.
    Ist Bach mit dem Wissen um die Zusammenhänge interessanter? Ohne Frage. Das kann ich auch sagen, weil ich auf emotionaler Ebene mit seiner [und fast der gesamten Barockmusik] nichts anfangen kann. Das Wissen um die religiöse Symbolik, seinen Ausdruck biblischer Geschichten in Musik [sowie die mathematische Raffinesse in seinen Kompositionen] bringt sie mir aber näher, eben weil ich verstehe.

  6. Erbloggtes Erbloggtes sagt:

    Das wäre ja so, als ob man Baileys nur genießen könnte, wenn man Herstellungsprozess und Geschichte des Produkts kennen würde. Ich finde es ja immer gut, solchen irrelevanten Kram (“Trivia”) zu wissen. Denn das trainiert das Gedächtnis und beeindruckt vielleicht bei Kneipengesprächen. Durch Demonstration von Bibelfestigkeit kann man sich in christlichen Kreisen vielleicht auch als zugehörig und gebildet (früher hätte man auch “fromm” gesagt) ausweisen. Aber das kann nun wirklich heute nicht als erstrebenswert für Kinder gelten, deren Eltern sie nicht religiös erziehen wollen.

  7. Hans Zauner sagt:

    Ich hab ja schon vier Bier und wollte gerade gehen, aber da hock ich mich doch noch schnell dazu. Stimmt ja schon: Das Schöne an der Musik ist, dass man sich nicht vom Komponisten vorzuschreiben hat, wie man sie verstehen soll und was man dabei empfinden muss. Ich kann die „Alpensinfonie“ hören und dabei ans Meer denken und niemand sollte mir vorwerfen, dass mein Musikgenuss dadurch gemindert wäre.
    Hier liegt ja eine Partitur von Bachs Weihnachtsoratorium rum – wer hat denn da Baileys-Flecken draufgemacht? „Jauchzet frohlocket, auf preiset die Tage…“ Muss ich wissen dass es um Weihnachten geht, um das zu geniessen? Nein,, denn Bach selbst hat sich die Melodie zu diesem Chor bei einem seiner früheren Werke ausgeliehen, wo es ganz und gar weltlich zuging. Weiter hinten, die „Hirtensinfonie“ : Schalmeien und Geigen, die sich zuerst ablösen, dann zu einem achtstimmigen Chor vereinen. Sehr schön. Hat man mehr davon, wenn man das zögerliche Klagen der Schalmeien als die Stimmen der verstörten Hirten, und die Geigen als die Erlösungsbotschaft der Engel versteht? Dazu müsste man jetzt eine frommen Musikliebhaber befragen, aber selbst für den nicht-religiösen Hörer transportiert das Stück eine optimistische, ins Spirituelle reichende Botschaft – finde ich wenigstens. Da will ich als Hörer schon wissen: was will der Bach denn jetzt von mir? Als rational denkender Mensch sage ich mal: Verständnis erhöht den Genuss; um ein Stück Musik zu verstehen und nicht nur zu hören hilft es manchmal schon, über die Intentionen des Komponisten Bescheid zu wissen – und bei geistlicher Musik sind die Intentionen eben religiös. Als Begründung für den Religionsunterricht ist das aber absurd. Die Intentionen des Komponisten verstehen heisst nicht, sich diese selbst zu eigen zu machen (Ich sag nur Wagner), oder sich eine amtskirchlich geprüfte Deutung vom Religionslehrer aufdrücken zu lassen.

  8. tre_bol sagt:

    Rutschen Sie mal ‘n Stück? Danke! Gibt’s hier auch heiße Schokolade? Mir fällt dazu nur ein, dass Hinz und Kunz offenbar selbst nichts mehr einfällt, was den gängigen Religionsunterricht in der Schule rechtfertigt – der Musikgenuss jedenfalls ist sowas von kein Argument, dass es schon fast wieder gut ist. Ich hab auch gar nichts gegen ein solches Fach, sofern es religionenübergreifend ist – sprich, den Kindern auch andere Religionen und ihre kulturelle Bedeutung für unser heutiges Miteinander nahe bringt. Und zur Darstellung der Weltsichten gehört natürlich auch der Atheismus. Das wäre mal wirklich innovativ, statt weiter Schubladendenken zu fördern. Nein danke, die Schokolade bitte ohne Sahne!

    • KarlRainer sagt:

      Noch ne Bloody Mary bitte mit es Bitzeli meh Salz.

      Hier kann kann ich echt mitreden, bin ich doch seit mitte der Sechziger Jahre Unterhaltungsmusiker.
      Es sei hier zuerst einmal festgenagelt dass Musiknoten etwas sehr Junges sind. Die Musik an sich hat, wie wir wissen, Jahrtausende emotioneller Entwicklung hinter sich. Beginnend mit Knochenflöten und diesen Sachen.
      Andererseits hätte ich nicht Die Pastorale, die Unvollendete und Le sacre du printemps, schon als Pubertierender geniessen können, gäbe es keine Noten. Und wenn die Mutter Geige, pardon, Violine spielt, versinkt die Welt um mich. Was? Nein, nicht meine Mutter.
      Ein anderes Girl das es in sich hat ist eine Tochter von Ravi Shankar – na? Richtiiig! Sitar. Wo sind denn da die Noten? Ihr Vater hat ihr mit Mund und Stimme die einzelnen Abschnitte vorgemacht. Kukt mal You Tube „anushka shankar“.
      Und meine Wenigkeit? Ein wenig spät aber dann doch, habe ich alter Hammond örgeler es geschafft mich mit einer Kirchenorgel anzufreunden. So ne richtig Grosse. Tja, das wäre dann eigentlich Bach. Das Fugenzeug klingt ja am Anfang ganz gut, wird aber dann eindeutig zu kompliziert um es mit 69 noch auswendig zu lernen – denn zwei Jahre Klavierstudium reicht da nirgends hin was die Noten betrifft. Die Tasten treff ich im Schlaf. Was tun? sprach Jupiter, nein das ist ja der Italiener, ich meine den Grieschn jaa – Zeus!
      Selber komponieren. Soll klingen wie Bach für einfache Leute. Gesagt getan. Und die Leute mögens. Die Noten mach ich mit dem Computer. Also mit dem Truthan.
      (gähn)
      sans griässt
      PS: das Whisky-Alter inzwischen Vergangenheit.
      Higgs!

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