Allzeit ideologiebereit!

Dierk HaasisDierk
Ich bezeichne meine Ideologie ja gerne als ‘Perspektive’ oder ‘Weltsicht’, manchmal ‘Menschenbild’. Der Witz ist nicht, ohne Ideologie zu sein, sondern andere Positionen einnehmen zu können und daraus zu lernen. Wie der US Amerikaner sagt: Walk a mile in my shoes.

Rationalismus, Empirismus, Liberalismus, Utilitarismus, Pragmatismus – alles Ideologien. Wollen wir ihnen abschwören, nur weil sie auf -ismus enden? Oder wollen wir uns lieber auf inhaltlicher Basis eine andere Grundidee darüber, wie die Welt zu erkennen ist, aussuchen? Kommunismus, Katholizismus, Buddhismus, Animismus, Neo”liberalismus”, Solipsismus?

Auf irgendeiner Grundlage müssen wir unsere Sinneseindrücke einordnen. Wer von sich behauptet, es unideologisch zu tun, belügt sich selbst. Er mag ein naiver Pragmatiker sein, er mag für sich kein allgemeines Weltbild formulieren können. Aber eine Ideologie hat er trotzdem.

ErbloggtesErbloggtes
Jeder hat eine Ideologie, auch wer das leugnet. Wer leugnet, selbst eine Ideologie zu haben – einer Ideologie anzuhängen, ihr unterworfen zu sein – benutzt den Begriff Ideologie aber auch in einem abwertenden Sinne, als unreflektierte Denkgrundlagen, die unser Handeln, Fühlen, Denken, auch unsere Wahrnehmung, auf einer basalen Ebene bestimmen. Wenn Ideologie aber in dieser Weise als Kampfbegriff eingesetzt wird, wie im Politbetrieb seit Napoleon üblich, bedeutet der Begriff kurz gefasst weltfremde Täuschung. Der Täuscher, das ist immer ein anderer, wie könnte man sich selbst auch weltfremd nennen und an eigene Täuschung glauben?

Überzeugen kann ein solcher Ideologievorwurf aber nur, wenn man die eigenen und die fremden Denkgrundlagen nicht reflektiert. Und das ist der Clou: Die Behauptung, dass der politische Gegner einer Ideologie anhänge und deshalb automatisch abzulehnen sei, sagt ungewollt, aber mit Bestimmtheit aus, dass man selbst auf seine eigenen unreflektierten Denkgrundlagen fixiert ist. So entlarvt der Ideologie-Vorwurf den Ideologen. Lest nur mal das Beispiel der neuen Bildungsminsterin. In der CDU ist man ohnehin überraschend offen ideologisch – natürlich ohne dieses böse Wort zu benutzen, mit dem man Andersdenkende disst. Das geht so weit, dass Spitzenposten nach Religionszugehörigkeit vergeben werden sollen.

Piraten, die “ideologiefreie” Politik fordern, sollten sich lieber um “ideologievorwurfsfreie” Politik bemühen und jeweils sagen, auf welchen eigenen Denkgrundlagen ihre konkreten Vorschläge basieren. Das würde natürlich einige Reflexion erfordern.

Joachim
Ja, Erbloggtes, wenn du die negativ besetze Bedeutung des Begriffs Ideologie verwendest, hast du recht. Aber der Begriff hat ja noch ein paar andere. Unter anderem eben den einer politischen Weltanschauung.

Dierk HaasisDierk
Mir ist das auch zu negativ. Natürlich ist meine Synonymsuche auch ein Einknicken vor jenen, die ‘Ideologie’ als Schimpfwort benutzen. Gerade die werden aber nicht einmal merken, wie oft es sich um Diktatoren handelte, die Begriffe zu Kampfbegriffen durch Umdeutung machen. Das merke ich schon daran, dass genau diese Leute George Orwells 1984 und Politics and the English Language heranziehen, um sich zu verteidigen.

In diesem napoleonischen Sinne ist grundsätzlich alles Ideologie, was DIE ANDEREN machen. Man selbst ist frei von Scheuklappen.

Immer wieder gern genommen wird dann ein uraltes Zitat von Helmut Schmidt, dass er einen Arzt aufsuchen würde, hätte er Visionen. Als Verteidigung für Ideologiefreiheit taugt das allerdings wenig, denn keine langfristige Vision zu haben, wie eine Gesellschaft beschaffen sein soll, ist auch eine Ideologie. Eine schlechte, möchte ich hinzufügen. Und kein Philosoph von Rang hat so etwas je gefordert. Das Mindeste, was wir benötigen, ist nämlich eine Idee davon, wie der Mensch ist und wie dies sich auf eine Polis auswirkt. Wir sprechen immerhin von politischer Philosophie.

Für Thomas Hobbes war homo homini lupus [nach Plautus], der Regeln und eine Regierung benötigt, damit es nicht zum bellum omnium contra omnes kommt. Einige spätere liberale Denker, vor allem die Anarchisten, waren der Meinung, der Mensch sei inhärent gut, und eine Gesellschaft würde sich ganz natürlich und gut entwickeln, gäbe es keine Regeln. Ja, das ist verkürzt, aber es kommt hier nicht auf die Details und historische Abläufe an.

Der Punkt ist: Ohne eine grundlegende Idee, wie der Mensch ist und wie eine Gesellschaft aussehen soll, geht es nicht.

Joachim
Ja, genau. Und ich denke nicht, dass die Anti-Ideologen keine solche Idee haben. Mich interessiert es, welche Weltanschauung Leute haben, die sich selbst als ideologiefrei sehen. Ich habe den Punkt Freitag auf Quantenmeinung angesprochen und eine Kommentatorin meinte dazu, die Anti-Ideologen seien die, die nicht bemerkt haben, dass Kapitalismus auch eine Ideologie ist. Ja, bei einigen trifft das zu. Naiver Pragmatismus, wie du sagst.

Aber ist es nur das? Ist nicht bei der “Nerd-Partei” auch der all zu starke Glaube an die Unfehlbarkeit und Eindeutigkeit der (Natur-)Wissenschaften im Spiel? Anti-Ideologen hoffen auf eine Politik, die auf der politischen Weltformel basiert. Eine Politik deren Input Wahrheit ist und deren Output eine naturwissenschaftlich begründete Handlungsanweisung. Nur kann das nicht funktionieren, weil sich deskriptive Wissenschaft zu der Frage, wie Menschen zusammenleben sollten, ausschweigt.

Dierk HaasisDierk
Wo du direkt die PIRATEN erwähnst, bei denen sich im Moment wohl doch eine ganze Reihe im Geiste sehr junger Menschen bewegen, dann ist es vermutlich alles viel einfacher. Sie meinen gar nicht ‘ideologiefrei’, sie meinen ‘undogmatisch’.

Joachim
Tja, “Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.” Es ist so viel einfacher, den politischen Gegnern Dogmatismus oder das Verfolgen einer unreflektierten Ideologie vorzuwerfen, als zur Sache zu kommen und die Differenzen klar zu benennen.

Gucken wir uns mal Familienpolitik an: Da ist es schon im Ansatz unklar, was eigentlich das Ziel ist. Geht es um den Erhalt des auf Bevölkerungswachstum angelegten Sozialsystems? Geht es darum, allen Menschen, die Kinder großziehen möchten, das so weit machbar zu ermöglichen? Oder geht es um die Förderung der klassischen Familie aus Vater, Mutter und Kindern? Und wenn die Frage nach dem Ziel beantwortet ist, geht es weiter mit der grundlegenden Frage, wie weit sich Politik in das Privatleben der Menschen einmischen soll und darf. Viele sehen Familie als einen Raum, in den Politik nicht hineinregieren darf. Andere halten es für notwendig, angenommenes oder tatsächliches Recht der Kinder auch gegen den Willen der Eltern durchzusetzen. Schulpflicht ist hier ein Beispiel.

Mein Punkt ist, dass all diese Fragen nicht streng deduktiv auf höhere “Wahrheiten” zurückgeführt werden können. Konservative und Linke stehen einander in diesen Punkten nicht deshalb unversöhnlich gegenüber, weil die einen dumm und die anderen weise sind, sondern weil sie unterschiedliches Menschenbild und Politikverständnis im Kopf haben.

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11 Kommentare zu Allzeit ideologiebereit!

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  4. Erbloggtes Erbloggtes sagt:

    In dem Sinne, nicht nach Wörterbuch zu definieren, sondern nachzuschauen, wie die Wörter benutzt werden, hier ein weiteres Beispiel:
    “Bill Clinton’s “New Democrats” offered a policy vision fit for the neoliberal age—post-ideological, market-friendly and less wedded to entitlement programs.”[1]
    “Postideologisch” hat also offenbar einen Zusammenhang mit “schwacher Staat”.

  5. Erbloggtes Erbloggtes sagt:

    Durchwursteln, sehr schön! Um nochmal auf die neue Bildungsministerin zurück zu kommen: “She does not avoid conflict, she takes clear positions, but at the same time she’s free of any ideology,” wird Helmholtz-Chef Jürgen Mlynek in “Science” vom 15. Februar 2013 (Vol. 339 no. 6121 p. 747) zitiert. Wir können annehmen, dass das für Mlynek und seine Zielgruppe eine positive Bewertung darstellt.

    • Joachim sagt:

      Was er hier mit ideologiefrei meint ist vermutlich, dass sie keine erklärte Atomkraft- oder Gentechnikgegnerin ist und nicht vehement für Umweltschutz oder Artenvielfalt kämpft. Also wieder die Verkürzung des Ideologiebegriffs auf “das, was die anderen denken”.

      • Erbloggtes Erbloggtes sagt:

        Ja, “was die anderen denken”, das denkt Wanka natürlich nicht. Allerdings ist die Deutung, dass sie klare Positionen bezieht (“takes clear positions”), dass sie aber “keine erklärte” Gegnerin oder Verfechterin von irgendetwas sei, wie Du sagst, sehr interessant. Jemand ohne bemerkenswerte eigene Meinung, der aber trotzdem klar Position bezieht, klingt etwa wie ein PR-Mensch, der für Beliebiges klar Position beziehen kann, je nachdem, was man ihm aufträgt.

        Sachlich widerspricht natürlich die vielfache Charakterisierung Wankas als glühender Verfechterin von Studiengebühren dieser Deutung. Außer man wollte annehmen, für Mlynek seien alle Studiengebührengegner “die anderen”, ihre Gegnerschaft von Verblendung (ideologisch) bestimmt.

        • Joachim sagt:

          Ja Studiengebühren sind ein sehr schönes Beispiel, wo eigentlich nur die Ideologie den Ausschlag gibt. Denn dass gute Ausbildung nötig ist, bestreiten ja weder Befürworter noch Gegner der Gebühr. Beide stützen sich auf dieselben Fakten, ziehen daraus aber aufgrund unterschiedlicher Weltbilder verschiedene Schlüsse.

  6. zerology sagt:

    @Elmar Joachim scheint es darum zu gehen, Politikziele benennen zu dürfen – auch auf die Gefahr, dass manche dies dann als Ideologie abweisen werden.

    Sonst bleibt nur Durchwursteln.

  7. Mir ist die Rolle von ” Menschenbild und Politikverständnis” noch nicht ganz klar: Suchst du nach einer Erklärung? Wenn ja, wofür? Oder geht es um einen neuen Aspekt der Beurteilung für die Qualität politischen Handelns?

  8. zerology sagt:

    Eine Möglichkeit ist doch, nicht an Worten zu hängen, sondern an dem, was sie sagen sollen. Wenn man zu zweit miteinander redet, kann man sehr schön daran feilen, welche Wörter man benutzen sollte – aber dies hier ist die Kneipe. Wenn ich in meiner Kneipe (hier bin ich ja nur zu gast :) Wörter benutze, die keiner versteht, ist das noch unproblematischer, als wenn mich die Anderen falsch verstehen. Beim Nichtverstehen bekomme ich nur kein Bier ausgegeben. Beim Falschverstehen dagegen gegebenfalls was auf die Nase.

    Wenn ich verstanden werden will, sollte ich mich verständlich ausdrücken – und “Verständlichkeit” ist in Bezug auf die Zielgruppe definiert.

    Tja. Für mich heißt das, dass ich das Wort Ideologie nicht für eine Welthaltung oder Denkweise gebrauche, die ich anzupreisen versuche.

    Das wir eine Denkweise brauchen, habt Ihr ja schon klarifiziert – ist halt auch doof ohne.

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